Jagdszenen in der Primärprävention: Verhalten ändern oder nur auf medizinische Erfolge bauen?

Der medizinische Fortschritt von Diagnostik und Therapie von HIV ist auch im Bereich der Primärprävention angekommen und biomedizinische Ansätze tragen immer stärker zum Erfolg der HIV-Prävention bei. Mit welchen Folgen ist zu rechnen, wenn diese Ansätze als Mittel der Wahl für eine erfolgreiche Prävention angesehen werden? Spielen Aufklärung, Information und Beratung zu Safer Sex für ein effektives Risikomanagement nur noch eine Nebenrolle in der Prävention?

(Zusammenfassung der Kontroverse 8: Claudia Kannen)

  • Die Referenten der Kontroverse waren Dr. Heiko Jessen | Berlin und Carsten Schatz | Berlin.

  • Derzeit steigt die Zahl der Neudiagnosen wieder an, was ein Indikator dafür sein kann, dass die Präventionsmaßnahmen nicht ausreichen. Kondome haben den Nachteil, dass sie generationsübergreifend von einem Großteil der Verwender als störend empfunden werden. Heute sinkt sogar die Zahl derer, die immer Kondome nutzen. In festen Partnerschaften sinkt diese Zahl ebenfalls parallel zur Dauer der Beziehung.

    Als Präventionsstrategien stehen neben dem Kondom u. a. die PeP (Postexpositionsprophylaxe), mit der man bis zu vier Wochen nach Exposition eine Infektion verhindern kann; Treatment as Prevention (TasP) oder auch die Präexpositionsprophylaxe (PreP) zur Verfügung, bei der man vor einer möglichen Exposition durch die tägliche Einnahme einer Pille eine Infektion mit dem HI-Virus verhindern kann.

    Die (PreP) ist ein wirkungsvolles Präventionsmittel, sollte das Kondom jedoch nicht überflüssig machen. Die Wirksamkeit der PreP ist gekoppelt an die konsequente Verfolgung der Therapie. Die Nebenwirkungen sind gering, eine Resistenzenbildung scheint eher die absolute Ausnahme zu sein und auch die Kosteneffektivität liegt sehr hoch. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Ansteckungsrate unter Prep bemerkenswert niedrig liegt.

    Seit 2012 ist die PreP in den USA zugelassen. Die Indikation ist dabei klaren Richtlinien unterworfen. So muss eine ausführliche Beratung wie auch eine engmaschige Überwachung beispielsweise auf Nebenwirkungen oder auf andere Geschlechtskrankheiten stattfinden. Die Zielgruppe ist erstmals ausgeweitet worden auf Heterosexuelle, Drogengebrauchende u. a. Die WHO hingegen empfiehlt eine Indikation in erster Linie der Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM).

    Auch in Deutschland und Europa sollte eine Zulassung beantragt werden. Eine Gefahr liegt jedoch in dem geringen Wissen über die PreP, was zu risikobehaftetem Verhalten führen kann.

    Dr. Heiko Jessen, Berlin

  • „Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung helfen keine Pillen.“ So wurde die zweite These eingeleitet. Die Prep kann somit nur ein Teil der Prävention sein. HIV und Aids können nicht überwunden werden, solange auch bestehende Tabus nicht aufgebrochen werden.

    In Deutschland sterben nach wie vor 500 bis 600 Menschen an den Folgen von Aids. Die Zahl der Neuinfektionen liegt bei 3000, dabei bleibt der Anteil der MSM stabil hoch. HIV-Tests nehmen weiter zu. Trotzdem existiert weiterhin Diskriminierung und Ausgrenzung der Menschen mit HIV. So können beispielsweise Menschen mit HIV mit einem Vermerk, der Ansteckungsgefahr signalisiert, in Deutschland in polizeilichen Datenbanken erfasst werden. All dies signalisiert, dass wir heute von einem Ende von Aids genauso weit entfernt sind wie vor 20 Jahren.

    Eine wirksame Prävention muss daher heute deutlich vielschichtiger sein. Neben den biomedizinischen Ansätzen sollte sie auch die psychosozialen Aspekte einbeziehen. Ebenfalls sollte(n) HIV-Tests kostenfrei angeboten und zur Inanspruchnahme ermutigt werden. Stärkende Strategien für das Selbstbewusstsein und die Selbstorganisation sollten zur Verfügung stehen.
    Eine flächendeckende Prep macht keinen Sinn, wenn man der These nachgeht, dass mit Entdecken, Therapieren und Schützen HIV kein Problem mehr ist. In diesem Fall erscheinen eine für alle verfügbare Postexpositionsprophylaxe PeP und kostenlose HIV-Tests viel sinnvoller.

    Wird der Fokus auf die Latepresenter in Deutschland gelegt, also auf diejenigen, bei denen zum Zeitpunkt ihrer Diagnose schon ein fortgeschrittener Immundefekt vorliegt, so erscheint es immer wichtiger, die Synonymkette HIV – Aids – Tod aufzubrechen. Leben mit HIV ist möglich – diese Botschaft verstärkt kommuniziert kann wesentlich dazu beitragen, Angstbarrieren auflösen.
    Grundsätzlich muss zum HIV-Test und früher Behandlung ermutigt werden.

    Carsten Schatz | Berlin

  • Herr Dr. Jessen sieht keinen Widerspruch in den beiden Thesen. Viele junge Menschen gehen unter Hinzunahme einer PreP deutlich entspannter mit ihrer Sexualität um und leiden weniger unter einem Stigma. Zudem hatte er betont, dass die PreP lediglich eine zusätzliche Präventionsmaßnahme darstellen soll. Für viele junge wie ältere Menschen steht die Nutzung eines Kondoms beim Sex nicht zur Debatte – weil sie nicht wollen, aber auch oft weil sie nicht können. Da hilft auch nicht der moralische Zeigefinger, sondern man muss sich den Realitäten stellen, auch auf politischer Ebene.

    Dr. Jessen empfiehlt eine Kostendeckung für die PreP durch die Krankenkassen. Derzeit darf sie von den Ärzten nicht verschrieben werden und steht daher nur den Selbstzahlern zur Verfügung. Der Kostenaufwand kann aktuell nicht berechnet werden, da keine Zahlen für Deutschland vorliegen. Jedoch ist davon auszugehen, dass eine Behandlung beispielsweise einer Hepatitis C sicher kostspieliger ist.

    Die Prep hat zwar Nebenwirkungen, ihre Schutzquote liegt jedoch deutlich höher als die von Kondomen. Zudem zeigt sich, dass die PreP auch für Frauen ein geeignetes Präventionsmittel zu sein scheint, denn sie sind eher als die Männer bereit zu einer regelmäßigen Pilleneinnahme. Jedem sollte selbst überlassen werden, ob er eine Pille zur Vorbeugung nimmt oder nicht.

    Mit den Pharmakonzernen müsste über die Preise von HIV-Medikamenten gesprochen werden.

    Es wurde festgehalten, dass eine reine Diskussion über Pillen nicht umfassend genug ist. So sollte ebenso über Sexualität und über die eigenen Süchte gesprochen werden und eine Reflektion darüber stattfinden. Die Debatte muss weiter gehen, denn der biomedizinische Ansatz ist eben nur einer von vielen.
    Trotzdem wird die PreP als eine gute Option für diejenigen wahrgenommen, die keine Kondome nutzen.

    Damit ergibt sich jedoch in vielen Fällen das Problem, dass dann das Kondom ganz weggelassen wird – da Sex ohne Kondom dem mit Kondom vorgezogen wird.

    Allgemein sei eine Ermüdung gegen eine Tabletteneinnahme feststellbar, was das Risiko wiederum erhöht. Hier zeigt sich ein Graben zwischen der eigenen Wahrnehmung und dem, was Experten erzählen. Die eigene Wahrnehmung der Konsumenten wird oft missachtet.
    Die Verantwortung zur Adhärenz liegt jedoch eindeutig bei denjenigen, die sich für diese Präventionsmaßnahme entschieden haben.

    Carsten Schatz wiederholt seinen Appell nach einer Fokusverschiebung von der Neuinfektion auf die Sterbefälle. Denn wenn die Menschen adäquate Behandlung erfahren, dann sei HIV/Aids auch kein Problem mehr. Dem widerspricht Dr. Jessen. Zum einen gibt es eine Vielzahl an Menschen, für die Aids sehr wohl ein Problem ist. Es hat sich vieles verbessert, aber unproblematisch ist es nicht geworden. Zum anderen führt er eine Statistik an, in der viele Neuinfektionen durch unwissend-frischinfizierte Menschen verursacht wurden. Dieser Gefahr kann man nur bedingt durch Aufklärung und Beratung begegnen, sie ist aber durch die PreP ideal einzuschränken.

    Aus dem Publikum kommt der Einwurf, dass das heute reduzierte Bedrohungsszenario ein anderes Sexualverhalten begründet und damit das Ziel einer weiteren Senkung von Neuinfektionen als unrealistisch empfunden wird. Die aktuelle Zahl von 3000 Neuinfektionen in Deutschland sei bereits ein „wunderbarer“ Wert. Diese Aussage stößt auf Widerspruch, denn Dr. Jessen findet es vielmehr beschämend, dass wir es in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre nicht schaffen, die Neuansteckungsraten zu senken, auch wenn die Gesamtzahl der Infizierten im Vergleich zum Süden Europas nicht mehr so hoch liegt.

    Eine Frage aus dem Publikum betraf die Gewissheit von Dr. Jessen, dass die Strategie des Einsatzes der PreP in den USA wirklich erfolgreich sei. Es gibt – so antwortete dieser – zugegebenermaßen noch kaum offizielle Auswertungen aus den USA, aber noch nicht veröffentlichte Zahlen deuten einen Erfolg an.

    Eine weitere Frage betraf den Erfolg der PreP bei Primärinfektionen. Wenn diese nicht bekannt sind, wie kann eine PreP dann helfen? Es gibt Zielpopulationen und Menschen mit einem speziellen Sexualverhalten – früher Risikogruppen genannt – die bei Einnahme einer Prep erst gar keine Primärinfektion bekommen und damit auch nicht zu den unwissend-Infizierten gehören würden.

    Jemand aus dem Publikum brachte den Komplex Schuld und Verantwortung in die Diskussion ein. Schuldig bzw. verantwortlich wurden von der Gesellschaft die HIV-Positiven gesprochen, die angesteckt haben. Heute ist es anders herum: Die HIV-negativen Menschen müssen sich nun selber kümmern und schützen, damit sie negativ bleiben. Und nun versuchten diese Personen ihre Verantwortung an eine Pille abzugeben. Die Auseinandersetzung mit einem HIV-Infektionsrisiko lässt sich nicht durch eine Pille aus der Welt schaffen, diese verhindert eher die erforderliche gesellschaftliche Debatte. Die Schuldfrage könnte man genauso bei Rauchern oder Alkoholikern stellen, was aber nicht geschieht. Über Schuld und Kosten wird nur im Zusammenhang mit Sex diskutiert. Sex gehört jedoch zum Leben dazu.

    Eine Meldung aus dem Publikum betraf die ethische Vertretbarkeit einer präventiven Medikamenteneinnahme durch „Gesunde“ in Europa, während in anderen Teilen der Welt Menschen mit Aids der Zugang zu Arzneimitteln verwehrt wird. Auch die Menschen außerhalb Europas sollten in den Genuss einer PreP kommen können, so ein weiterer Hinweis, der damit gerade den Anteil der Pharmafirmen ansprach. Die Kosten einer Therapie sind zu hoch, auch in Deutschland und Europa.

    Die oft geäußerte Befürchtung, dass sich ohne die Verwendung des Kondoms sexuell übertragbare Krankheiten (STI) wieder stärker verbreiten würden, wurde von einer Diskussionsteilnehmerin entkräftet. Denn gerade durch den durch die PreP notwendigen regelmäßigen Kontakt zum medizinischen System bestünde eine viel bessere Möglichkeit, eine sexuelle Ansteckung zu verhindern.

  • Die Präexpositionsprophylaxe ist eine weitere Präventionsposition, die jedoch das Kondom nicht zwingend ersetzen soll. Aber sie stellt eine gute Alternative für Menschen dar, die das Kondom nicht benutzen können oder wollen. Daher sollte sie auch von den Ärzten verschreibbar werden.

    Die gesellschaftliche Auseinandersetzung muss unbedingt weiter geführt werden, da Stigmatisierung und Diskriminierung unberührt vom biomedizinischen Bereich weiterhin bestehen.

    Die Pharmafirmen sollten aufgefordert werden, die Kosten für HIV-Medikamente soweit zu senken, dass sie allen Menschen weltweit zur Verfügung stehen können.

    Für die Zukunft brauchen wir neue Präventionsstrategien und mehr Forschung.