Deine Hilfe gGmbH – Liegt die Zukunft der Aidshilfe in der Caritas?

25 Jahre nach Gründung der Aidshilfen in Deutschland scheint die Selbsthilfe an einem Scheideweg angekommen zu sein. Das statistische Lebensalter von HIV-Infizierten steigt kontinuierlich an, die Krankheitsbilder werden individueller. HIV wurde in kürzester Zeit von der tödlichen Seuche zu einer chronischen Infektion. Immer weniger HIV-infizierte Menschen benötigen zur Bewältigung ihrer Situation nachhaltige Hilfestellungen durch die Aidshilfen. Der Anteil derjenigen, die die Erfahrung machen müssen, dass die Infektion das Wegbrechen ihres sozialen Umfeldes nach sich zieht, nimmt ab. Sie bleiben häufiger dauerhaft im Arbeitsprozess und sind medizinisch-therapeutisch gut eingestellt. Angesichts dieser Veränderungen sollten die Schwerpunkte der bisherigen Aidshilfearbeit überprüft und entsprechend aktueller und zeitgemäßer Aspekte modifiziert oder verworfen werden.

Dennoch ist die Stigmatisierung in vielen Bereichen des täglichen Lebens immer noch Thema für Menschen mit HIV und Aids. Zudem werden sie mit HIV alt, was neue, noch unbekannte Probleme mit sich bringt. Nicht alle kommen mit der Therapie zurecht und die medizinische Versorgung wird teurer. Unklar ist, ob die Finanzierungsgrundlage des Gesundheitssystems eine spezialisierte Versorgung auf lange Sicht gewährleistet. Zunehmend konzentriert sich die Infrastruktur für eine nachhaltige medizinisch-therapeutische und psychosoziale Beratung und Begleitung hauptsächlich dort, wo sich medizinische HIV-Behandlungszentren herausgebildet haben. Betroffene, die eine dauerhafte und engmaschige Versorgung benötigen, orientieren sich zunehmend räumlich in Richtung dieser Zentren.

Korrespondierend zum steigenden Durchschnittsalter von HIV-Patientinnen und -Patienten steigt auch das Durchschnittsalter der HIV-positiven Nutzerinnen und Nutzer von Aidshilfe an. Zudem erhöht sich die Anzahl derer, die schon vor der HIV-Infektion mindestens eine psychiatrische Grunderkrankung bzw. eine weitere schwerwiegende chronische Infektion wie z. B. Hepatitis C haben. Diese Tendenz paart sich nicht selten mit einer Suchterkrankung. Auffällig ist, dass die Anzahl derer steigt, die im hohen Maße von Isolations- und Vereinsamungstendenzen betroffen sind. Dazu hat sich der Nutzer- und Nutzerinnenanteil von Migrantinnen und Migranten aus dem südlichen Afrika, arabischen Sprachraum und aus Osteuropa deutlich erhöht .

HIV unterscheidet sich nach wie vor maßgeblich von anderen chronischen Krankheiten. Betroffene, die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren infiziert haben, mussten nicht selten aus dem Arbeitsprozess aussteigen und leben seitdem von staatlichen Transferleistungen. Unklar ist, in welchem Umfang sich die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen für chronisch Kranke in Zukunft weiterentwickeln werden. Eine spezielle Versorgung und Betreuung ist somit auch in den kommenden Jahren unverzichtbar. Strittig ist aber, ob die Zukunft der Aidshilfe im Social Management oder in der Interessenvertretung und Selbsthilfe von Menschen mit HIV und Aids liegen soll.

Wird Aidshilfe sich angesichts der zu erwartenden Veränderungen immer stärker zu einem komplementären Hilfsdienst, der medizinische Versorgungssysteme entwickelt? Was würde das für das politische Profil von Aidshilfe bedeuten, was für die Einheit von Verhaltens- und Verhältnisprävention im Kontext eines emanzipatorischen Ansatzes?

  • Die Refrenten waren Klaus-Peter Hackbarth | Geschäftsführer AIDS-Hilfe Essen e. V. und Carsten Schatz| Vorstand Deutsche AIDS-Hilfe e. V. Die Moderation führte Klaus Stehling | Landesgeschäftsführer AIDS-Hilfe Hessen e. V.

  • Aidshilfe war gestern, die Zukunft liegt im Social Management. Die Kernkompetenzen der Aidshilfen müssen auch für andere Themenfelder, weit über HIV und Aids hinaus, entwickelt und gewinnbringend umgesetzt und vermarktet werden. Eine moderne, multikulturelle und multisexuelle Gesellschaft benötigt entsprechend kompetente soziale Dienstleisterinnen und Diesnstleister.

    Die Infektion mit dem HI-Virus und die Antiretrovirale Therapie (ART) ist heute eine hochkomplexe, aber auch erfolgreiche Angelegenheit. Mittlerweile verlängert sich die Lebenserwartung unter ART um viele Jahre ab Serokonversion. Andererseits bringt diese deutlich verlängerte Lebenszeit neue Belastungen für die Betroffenen mit sich. Ein erhöhtes Resistenzrisiko, neue Erkrankungsmuster wie z. B. Herz-/Kreislaufbeschwerden, onkologische Probleme oder neurologische Störungen bis hin zu psychiatrischen Auffälligkeiten sind mögliche Folgen. Das heißt, dass eine Infektion mit dem HI-Virus zunehmend zu einer Multiorganerkrankung führen kann.

    Es ist nicht zu erwarten, dass die Stigmatisierung von HIV-Infizierten auf absehbare Zeit in relevantem Maße an Bedeutung verliert. Problematisch ist dies für jene Infizierten, die außerhalb der Versorgungszentren auf spezialisierte medizinische und pflegerische Angebote und Hilfe angewiesen sind. Mit der wachsenden Zahl älterer und alter HIV-Infizierter wird diese Problematik noch deutlicher hervortreten. Diese Situation wird dadurch verschärft, dass der Anteil von Menschen mit Mehrfachproblematiken unter HIV-Positiven überdurchschnittlich hoch ist und weiter wächst. Zudem bleibt der Anteil von Positiven, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen und deshalb nicht in die konventionellen Versorgungssysteme passen (Drogengebrauchende oder Menschen mit Migrationshintergrund), überdurchschnittlich hoch.

    Das bedeutet, dass die Bandbreite der Anforderungen an Aidshilfe angesichts der fortschreitenden, differenzierter werdenden Lebensrealitäten von Menschen mit HIV und Aids wachsen wird. Der Bedarf an punktueller, aus spezifischen Lebenssituationen erwachsender professioneller Beratung in medizinischer, rechtlicher und sozialer Hinsicht nimmt zu. Gleichzeitig wird der Bedarf an intensiven, auf lange Zeit hin angelegten Beratungs- und Betreuungskontakte mit der HIV-Prävalenz steigen.

    Somit verstehen sich die Aidshilfen auch weiterhin als Vertretungen für Menschen mit HIV und Aids, um mit ihnen und für sie einen kritischen Blick, nicht nur auf den gesellschaftlichen und sozialen Kontext, sondern auch auf das medizinische Handeln und die Rolle der Pharmaindustrie zu wahren. Die medizinische Versorgung wird weiter Fortschritte machen. Dabei werden aufgrund der Komplexität der Therapien und der medikamentösen Versorgung auch weiterhin spezialisierte Versorgungszentren unverzichtbar sein. Die Aidshilfen setzen sich für eine ortsnahe medizinische Versorgung für HIV-Patientinnen und HIV-Patienten ein. Sie sehen aber auch die Notwendigkeit, dass aufgrund der Komplexität von HIV und Aids und der therapeutischen Möglichkeiten sich regionale Behandlungszentren entwickeln.

    Damit sollten die Aidshilfen sich mit den psychosozialen Folgen der neuen Koerkrankungen neben den bisherigen opportunistischen Erkrankungen auseinandersetzen und Hilfeangebote auch vor diesem Kontext vorhalten. Das heißt, dass die Aufnahme weiterer Themenbibliotheken zu den Sachverhalten „Neue Erkrankungen unter ART/HIV“, „Veränderungen im Versorgungsbedarf durch steigendes Lebensalter“ und „Psychiatrische Grunderkrankungen in Kombination mit HIV und andere chronische Infektionen“ angestoßen werden muss. Ebenso ist eine interkulturelle Öffnung erforderlich.

    Die deutlich verlängerten Überlebenszeiten und die oben skizzierten Problemlagen verlangen vorzugsweise den professionellen Auf-und Ausbau weiterer Arbeitsfelder. So ist die Schaffung von nachhaltigen Angeboten genauso notwendig wie die Initiierung von Beschäftigungs- und Arbeitsprojekten. Angebote für ambulantes Betreutes Wohnen müssen ebenso wie psychotherapeutische und  suchttherapeutische Hilfeangebote umstrukturiert und ggf. initiiert werden. Die Hinzunahme von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und der Auf- und Ausbau von regionalen Arbeitsnetzwerken ist erforderlich, um frühzeitig und zielgerichtet auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer von Aidshilfen angemessen reagieren zu können. Das bedeutet die Partizipation von und Entwicklung an bestehenden Versorgungsstrukturen unter besonderer Berücksichtigung von HIV und Aids.

    Aidshilfe verteidigt weiterhin das individuelle Recht, auch Entscheidungen treffen zu können, die der gesellschaftlichen Norm zuwider laufen und die langfristig auch gesundheitlich und psychosozial relevante Folgen nach sich ziehen können. Sie muss sich deshalb konsequent für ein solidarisches System der sozialen Sicherung und ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem einsetzen. Bei begrenzten finanziellen Ressourcen entsteht an dieser Stelle ein Zielkonflikt, wenn an der Forderung einer optimalen spezialisierten flächendeckenden Versorgung festgehalten wird. Aidshilfe soll sich diesem Konflikt stellen.

    Als Akteurin auf dem Feld der Gesundheits- und Sozialpolitik soll Aidshilfe konkretisieren, welche (Vergleichs-)Maßstäbe sie in der Beurteilung einer adäquaten Versorgung anlegt. Dazu zählt etwa die Bewertung der Lebenserwartung und Lebensqualität im Vergleich mit anderen chronischen Erkrankungen. Ist es gerechtfertigt, für HIV-Patienten eine spezialisierte Versorgung einzufordern, wenn andere chronisch Kranke auf Grundlage standardisierter Disease-Management-Programme versorgt werden?

    Klaus-Peter Hackbarth | Geschäftsführer AIDS-Hilfe Essen e. V.

  • Aidshilfe ohne Selbsthilfe ist wie Liebe ohne Leidenschaft. Denn die Kernkompetenz und das Alleinstellungsmerkmal der Aidshilfe ist die Einbeziehung und Einbindung der Selbsthilfe in alle Ebenen der Prävention. Ohne diesen Aspekt wird Aidshilfe eine Hülle ohne Wert und versinkt im Markt der sozialen Dienstleisterinnen und Dienstleister. Die Interessenvertretung der Menschen mit HIV und Aids und der davon besonders bedrohten Gruppen durch die Aidshilfe ist auch weiterhin ein Zukunftsmodell für den Umgang mit anderen sexuell übertragbaren bzw. chronischen Erkrankungen.

    Selbsthilfe war bereits der Antrieb zur Gründung der Aidshilfen, sie ist ihr Ursprung. Ohne Selbsthilfe der von Aids bedrohten Gruppen hätte es keine Aidshilfen gegeben. Sie war der Motor der Entwicklung des Verbandes. Ende der 1980er-Jahre kam die Selbsthilfe der hauptsächlich mit HIV infizierten Bevölkerungsgruppen hinzu: schwule Männer, Frauen sowie drogengebrauchende Frauen und Männer. Es entwickelte sich ein Wertekanon aus Selbstorganisation, Selbstbestimmung und Solidarität, der die Leitbilder von Aidshilfen bis heute prägt.

    Selbsthilfe hat die Arbeit der Aidshilfen auch inhaltlich begründet. Aus den Diskussionen der Selbsthilfe Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre entstand das Konzept der strukturellen Prävention, das bis heute die Arbeit der Aidshilfen bestimmt.

    Selbsthilfe thematisiert die Veränderungen im Leben mit HIV. Denn es war die Selbstorganisation der Menschen mit HIV und Aids, die Veränderungsbedarf in der Arbeit der Aidshilfen seit Ende der 1990er-Jahre angemahnt und eingefordert hat. Verlängerte Lebenszeit, sich verändernde Erwerbsbiographien einerseits und der stärkere Bedarf an Versorgung andererseits, erzwangen eine Differenzierung und Professionalisierung der Arbeit.

    Damit konnte Aidshilfe auf mindestens zwei Arten umgehen. Einmal versuchte sie, Selbsthilfe und Selbstorganisation zu „klientelisieren“ oder herauszudrängen, wie das zumeist auf regionaler Ebene passiert ist. Dazu eröffnete sie wirkungslose Spielwiesen wie Netzwerke, getreu dem Motto „sauber, satt und still“. Zum Zweiten passte sie bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung die Selbsthilfe und Selbstorganisation vom Töpferkurs bis zur örtlichen Aktionsgruppe auf ihre jeweiligen Situationen an, indem sie diese durch Integration in Organisationsentwicklung, Umsetzung neuer Programme und ihrer Evaluation sowie in Interessenvertretungen einband.

    Aidshilfe ist in weiten Teilen ein Monopolist bei der Erbringung von Services für Menschen mit HIV und Aids. Kluge Monopolisten stellen sich dieser Herausforderung und binden die Kunden ein, fordern und fördern Feedback. Sie entwickeln teure Programme zur Erhöhung der Kundenzufriedenheit. Aidshilfe als partizipativer Monopolist sollte weitergehen und seine Kundinnen und Kunden auf allen Ebenen des Unternehmens einbeziehen. Dann kann und wird sie erfolgreich sein, auch als Vorbild für die Caritas.

    Denn die Menschen mit HIV und Aids bringen die Realität des heutigen Lebens mit der Infektion in Beratungsstellen, in Begegnungsangebote und in die Veranstaltungen von Aidshilfen – so, wie sie ihr Leben wahrnehmen und erleben. Und genau in diesem Erleben liegt die Herausforderung der Aidshilfe. Selbsthilfe ist somit für die weitere Entwicklung der Aidshilfen unabdingbar, denn der kluge Monopolist baut vor!

    Carsten Schatz| Vorstand Deutsche AIDS-Hilfe e. V.

  • Carsten Schatz beginnt mit einem Zitat aus dem Wikipedia-Eintrag zur Deutschen AIDS-Hilfe e. V.: „Nach dem Auftreten der ersten AIDS-Krankheitsfälle 1981 und einer beginnenden gesellschaftlichen Diskussion wurde die Deutsche AIDS-Hilfe e. V. (DAH) am 23. September 1983 in Berlin von schwulen Männern und einer Krankenschwester… gegründet“. Er will damit verdeutlichen, dass Aidshilfearbeit von Anfang an aus der Selbsthilfe einzelner Interessensgruppen entstanden sei.

    Klaus-Peter Hackbarth hält dem entgegen, dass nicht überwiegend schwule Männer bei der Gründung von Aidshilfen beteiligt waren. Vielmehr habe sich eine breite gesellschaftliche Basis aus vor allem Ärztinnen, Sexualpädagoginnen usw. gebildet, die gemeinsam mit schwulen Männern viele der Aidshilfen gründeten. Betroffen äußert er sich über die These von Schatz, regionale Aidshilfen würden die „Selbsthilfe herausdrängen“. Das Gegenteil sei der Fall, man versuche gerade, sie wieder stärker einzubinden. Wobei eine, von Fachkräften angeleitete Selbsthilfe, entgegen seinem Verständnis von sich-selbst-helfen sei . Er habe eher das Gefühl, Selbsthilfe „drängt sich selber raus“, weil sie sich nicht selbständig organisieren und einbinden will.

    Hackbarth gibt Schatz bei der Ansicht recht, dass andere soziale Verbände heute auch das tun, was Aidshilfen schon immer gemacht haben, nämlich ihre Selbsthilfe- und Betroffenenkompetenz miteinzubeziehen, aber sich dennoch zu professionalisieren.

    Schatz erklärt, dass er die Frage, wer Aidshilfe denn heute noch brauche, so für falsch hält. Dies bedeute, dass es welche gäbe, die sie benötigen, andere bräuchten sie nicht. Natürlich funktionierten das Leben mit der Infektion, das soziale Umfeld und der Beruf bei den einen gut, bei den anderen weniger gut. Aber beide Gruppen haben grundsätzlich Beratungsbedarf und somit einen Bedarf an den Angeboten, die Aidshilfe machen kann und soll. Denn das Wissen um die Infektion schaffe Unsicherheiten, Fragen und Probleme. Erkenntnisse darüber können erst durch die Selbstorganisation gebündelt und in die Arbeit eingebracht werden. Als Beispiel nennt er die Erfahrungen aus dem Bereich „HIV und Arbeit“. Viele wüssten nicht, wie sie in ihrem Berufsalltag mit ihrer Infektion umgehen sollten und Aidshilfen wissen nicht, was sie den Betroffenen dazu anbieten können.

    Schatz sei nicht gegen Professionalisierung, im Gegenteil. Nach seiner Meinung fördere aktive Selbsthilfe die Professionalität und damit die Qualität, weil sie Anforderungen an die Aidshilfearbeit stellt. So gelte die alte These: Menschen mit HIV und Aids brauchen Aidshilfe. Vielleicht nicht immer, aber manchmal. 

    Hackbarth sieht hier den ersten Konsens. Das Thema „HIV und Arbeit“ sei ein sehr wichtiger Schwerpunkt. Zudem funktioniere Selbsthilfe an vielen Stellen sehr gut, etwa bei ehrenamtlichen Vorständen. Hier gäbe es zum Beispiel in NRW sehr effektive politische Arbeit, die eine Unterstützung für die professionellen Strukturen bedeutet.

    Dies ist dem Moderator jedoch zu konsensuell. Es sei klar, dass Aidshilfen professioneller werden sollen, nicht unprofessioneller. Darum geht es nicht. Die Frage wäre eher, wer eigentlich Motor der gesellschaftlichen Veränderung ist? Aidshilfe war immer eine politische und emanzipatorische Organisation. Wie könne das gehen, wenn ihr nur die „Mühseligen und Beladenen“ bleiben? Es fänden sich schließlich selten Sozialarbeiter oder Politprofis in der Selbsthilfe. Wie kann man so Aidshilfe und Selbsthilfe weiterentwickeln?

    Hackbarth glaubt, Aids werde als Krankheitsbild verschwinden und sich nur noch für sozial Schwache als Problem erweisen. Dafür sei Aidshilfe mit Beschäftigungsprojekten etc. bereits breit aufgestellt. Nur alleine darin sehe er jedoch nicht ihre Zukunft.

    Aus dem Publikum kommt die Anmerkung, dass nur wenige professionelle Angestellte in Aidshilfen selber von einer HIV-Infektion betroffen seien. Zudem würden die Betroffenengruppen schon alleine dadurch weniger einbezogen, weil sie durch die immer häufiger vorhandene Berufstätigkeit bestimmte Angebote zeitlich nicht annehmen könne. Hier müsse Aidshilfe sich stärker an die geänderte Zeitstrukturen ihrer Zielgruppen anpassen. Ein weiterer Publikumskommentar hält den Gegensatz Selbsthilfe zu Professionalität für wenig relevant. Denn ein Kerngeschäft der Aidshilfearbeit sei die Primärprävention. Sie stelle auf verschiedenen Ebenen eine wichtige Versorgung dar, für die alle Akteurinnen und Akteure notwendig seien. Die Einschätzung ist, dass der Bereich der Prävention untergehe.

    Schatz sieht als aktuelle Schwelle des Scheiterns von Aidshilfe die nicht vorhandene Sichtbarkeit von HIV-positiven Menschen z. B. am Arbeitsplatz. Viele von ihnen haben kein Gesicht und somit keine formulierten Bedürfnisse. Aber für sie müsse Aidshilfe auch Angebote bereithalten. Sie müsse also sowohl die Selbstvertretung stärken, als auch Stellvertretung wahrnehmen.

    Hackbarth ergänzt, dass Aidshilfen auch nicht mehr genug präsent sind. Es fände zwar eine politische Interessenvertretung statt. Man bräuchte aber mehr personalkommunikative Angebote, um die immer komplexeren Themen von HIV und Aids richtig vermittelt zu bekommen. Zudem kommen andere Infektionsbilder dazu, die eine enorme Herausforderung für das medizinische wie soziale Umfeld rund um HIV bedeuten. Deshalb sei eine höhere Professionalität unbedingt notwendig. Aidshilfe müsse sich mehr Zeit für Themen nehmen und Menschen motivieren, sich dieser anzunehmen.

  • Selbsthilfe und Professionalität müssen keinen Gegensatz darstellen. Die Partizipation auf unterschiedlichen Ebenen der Aidshilfearbeit funktioniert in vielen Bereichen sehr gut. Viele Ehrenamtsstrukturen und Selbsthilfeinitiativen sind eng verwoben mit hauptamtlichen Angeboten. Lediglich die Art und Weise der Partizipation hat sich verändert. Hier sind neue Ansätze und Angebote nötig, um Menschen wieder die Tür zur aktiven Mitarbeit zu öffnen. Zudem Bedarf es auch einer vernünftigen Finanzierung von Selbsthilfe und dem Willen auf Seiten der Aidshilfen Kompetenzen und Themen abzugeben.

    Aber nicht für jeden ist Selbsthilfe zeitlich, finanziell oder psychisch machbar. Dafür muss Aidshilfe professionelle Angebote wie psychosoziale Beratung etc. bereithalten. Eine Professionalisierung zu medizinischen, rechtlichen und sozialen Themen ist deshalb notwendig. Sie muss ihr Selbstverständnis als Patientenvertretung stärken und eine ortsnahe Versorgung sicherstellen, sich mit neuen Erkrankungen als Folge der HIV-Infektion beschäftigen und Beschäftigungsprojekte initiieren. Es wird zudem immer wichtiger, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den noch unterrepräsentierten Betroffenengruppen wie aus dem Migrationsbereich stärker in die Arbeit einzubinden.

    Das Leben mit HIV und Aids wird einerseits leichter, andererseits komplexer. Themen rund um HIV wie Alter, Arbeit, Medizinalisierung und Co. müssen HIV-positive Menschen jedoch selbst formulieren. Dazu braucht es den nötigen Rahmen und zu diesem muss Aidshilfe beitragen. Sie ist angehalten, Solidarität und soziales Engagement gezielter zu fördern und muss den Spagat schaffen, Selbsthilfe als Kunden UND als Partner ihrer Arbeit zu verstehen.